Es herrscht Chaos. Es sind nicht ganz so viele Menschen wie die letzten Tage, aber sie sammeln sich alle vor dem Bahnhofsgebäude und richten ihre Schlafplätze und Zelte genau vor unserem Eingang her. Familien, kleine Kinder, Frauen, Schwangere, junge Männer, alte Menschen und verletzte Menschen liegen auf dem Boden notdürftig mit Decken gewärmt. Sie wollen hier nicht weg. Es gibt noch einen Zug, der sie nach Linz bringen soll, aber sie wollen nicht aufstehen. Sie hoffen auf einen Zug der sie direkt nach Deutschland bringt. Ein Zug “ohne Gefahrenstellen”. Alle DolmetscherInnen arbeiten zusammen, wir gehen von Familie zu Familie, doch anfangs haben wir wenig Erfolg. Langsam wird meine Angst, dass alle draußen schlafen werden größer und größer. Ich setzte mich auf den Boden zu einer Gruppe junger Männer. Einer spricht etwas Englisch. Ich zeige ihnen am Handy eine Karte von Österreich und flehe sie an in den Zug zu steigen. Sie wollen nicht. Ich gebe trotzdem nicht auf. Ich rede und rede und erkläre ihnen alle Vorteile, die dieser Transport für sie hätte. Sie beginnen sich aufzusetzen und mir langsam mehr ihrer Aufmerksamkeit zu schenken. Ich bekomme noch Hilfe von zwei Dolmetscherinnen und als ich kurz davor bin aufzugeben und ihnen mitgeteilt habe, dass ich so lange hier bei ihnen sitzen bleiben werde, bis sie in diesen verdammten Zug einsteigen fangen sie an zu lachen und beginnen wirklich ihre Sachen zu packen. Ich bin überwältigt. Es hat funktioniert. Als sie aufstehen bemerke ich, dass mein englischer Gesprächspartner stark körperlich beeinträchtigt ist, als er Probleme hat auf die Beine zu kommen. Seine Freunde packen ihn links und rechts und bevor sie schnell Richtung Bahnsteig 1 verschwinden, nimmt er meine Hand, sieht mich an und sagt “Thank you Kathi”.
Der Aufbruch dieser Gruppe führt zu einer Kettenreaktion. Langsam beginnen alle uns Glauben zu schenken und begeben sich Richtung Zug. Nur ein paar Wenige bleiben zurück – sie wollen auf ihre Familien warten, die morgen hier aus Nickelsdorf ankommen sollen.
Kurz bevor ich gehe, kommt eine Dolmetscherin zu mir – Zahar. Sie hat eine 11-köpfige Familie, die noch einen Tag in Wien bleiben will um sich auszuruhen. Sie besteht aus 3 Frauen, 3 kleinen Kindern, einer 101-jährigen Frau und 4 Männern. Doch mit Notunterkünften sieht es gerade schlecht aus. Ich telefoniere herum. Werde weitergeleitet, bekomme neue Nummern, doch um die Familie unterbringen zu können, müsste ich sie trennen.
Zahar ruft ihren Vater an und der willigt ein die Familie für eine Nacht bei sich aufzunehmen. Ich gebe Zahar einen 50, damit sie die Taxis nicht komplett alleine zahlen muss. Die alte Frau kommt zu mir und ich rechne damit, dass sie sich bedankt. Ich bin völlig perplex als sie ihre Arme um mich schlingt und mir abwechselnd Küsse auf die linke und rechte Wange drückt.