Es sind Geschichten die hier erzählt werden. Es sind Geschichten die berühren, Geschichten die Angst machen und Geschichten die man manchmal gar nicht hören möchte, weil sie von einem Leid erzählen, dass wir uns hier gar nicht vorstellen können.
Seit zwei Tagen kommen wieder pausenlos Flüchtlinge zum Westbahnhof. Sie kommen in Sandalen, kurzer Hose und Sand in den Schuhen bei uns an. Mittlerweile ist es so kalt, dass sie trotz Decken noch zitternd am Bahnsteig sitzen.
Amila* zittert nicht. Sie sitzt neben mir am Eingang der Ambulanz und starrt einfach nur auf ihre schmutzigen Schuhe. Sie wirkt verloren in ihren Gedanken, ihre Augen sind tränengefüllt, doch für ihre fünf Söhne die neben ihr sitzen bleibt sie stark. Ihr Mann Muhammed* kniet vor ihr und redet leise auf sie ein, doch sie reagiert nicht. Ihre Augenlieder flattern als er ihr einige Male übers Gesicht streicht und versucht die unsichtbare Barriere zwischen ihnen zu durchdringen.Sie wiederholt immer wieder, dass sie mit diesen Schuhen doch nicht zum Arzt kann, weil er sie für ungepflegt halten wird. Das scheint momentan ihre einzige Sorge zu sein.
Ihr kleinster Sohn klettert auf meinen Schoß und gemeinsam streichen wir Amila über den Rücken. Sie dreht sich langsam zu mir und sieht mich lange an. Dann nimmt sie meine Hand und drückt sie. Anfal, eine Dolmetscherin die auch bei uns sitzt und die Familie betreut, deutet Amila, dass sie die nächste Person ist, die zum Arzt darf. Muhammed und Anfal stützen sie auf dem Weg in die Ambulanz, ihre Söhne bleiben in der Zwischenzeit bei mir. Ich denke mir, dass sie alle etwa zwischen 4 und 10 Jahre alt sein müssen, als ich mir einen nach dem anderen ansehe. Während die zwei größeren Jungs mit Autos spielen, füttere ich die zwei kleineren mit Keksen.
Keine fünf Minuten später ist Amila wieder da. Sie will sich nicht untersuchen lassen, sagt, dass es ihr gut geht und schickt ihren Mann mit den Kindern hinein, um Hustensaft und Nasenspray für sie zu holen.
Sie greift wieder nach meiner Hand und starrt gerade aus, doch dann fängt sie leise an über ihre Reise zu erzählen.
“Ich habe sechs Kinder. Meine fünf Kleinen und eine Tochter. Die ist aber schon in Deutschland, weil sie dort vor einiger Zeit geheiratet hat. Wir sind aus Syrien und wir wollten dort auch bleiben, aber es wurde unerträglich dort. Überall Bomben, Anschläge und so viele verletzte und getötete Freunde. Wir wollten doch, dass unsere Kinder eine Zukunft haben, also haben wir uns dazu entschieden zu flüchten. Für die Flucht haben wir all unser Geld gespart, doch einen großen Teil davon haben wir bereits an Schlepper unterwegs verloren. Drei Mal habe ich versucht mit meiner Familie mit Schlauchbooten von der Türkei nach Griechenland zu flüchten, doch jedes Mal war das Boot so überfüllt, dass es nach wenigen Kilometern anfing zu sinken. Wir hatten solche Angst und haben geweint bis uns die Schlepper anschrien leise zu sein. Die Küstenwache hat uns jedes Mal vor dem Ertrinken gerettet.
Beim letzten Versuch hat es dann aber doch geklappt. Wir sind fast bist zur Küste einer griechischen Insel gekommen, dann ging das Boot wieder unter und wir mussten schwimmen. Zwei meiner Söhne hatten keine Schwimmweste, weshalb Muhammed sie auf den Rücken genommen hat. Es war dunkel und ich hatte keine große Hoffnung, dass wir es bis zur Küste schaffen würden, aber irgendwie haben wir es dann doch geschafft.
Helfer haben sich dann um uns gekümmert und uns mit Wärmedecken eingewickelt. Wir verbrachten die Nacht dort und fühlten uns etwas sicherer. Am nächsten Tag sind wir dann Richtung Grenze aufgebrochen und haben in den folgenden Tagen Bulgarien, Serbien und Ungarn durchquert. Wir sind durch Wälder, Flüsse und Städte gewandert und wurden unterwegs mehrere Male ausgeraubt und von diversen Polizisten und Schleppern misshandelt und geschlagen.”
Amila verstummt und leise Tränen rollen über ihr Gesicht. Sie lehnt ihren Kopf gegen die Wand und schließt die Augen. Anfal und ich fühlen uns hilflos. Was sagt man jemandem der eine Reise wie diese durchstehen musste? Wie bekommt jemand wie Amila wieder Hoffnung?
Ich weiß es nicht also lege ich einfach meinen Arm um ihre Schulter und drücke sie an mich. Sie lässt ihren Kopf auf meine Schulter sinken und in dieser Position bleibt sie auch, bis ihre Kinder und Muhammed wieder zu uns kommen und wir gemeinsam mit Anfal ins Kleiderlager gehen, wo wir die gesamte Familie mit neuem Gewand eindecken. Für jedes Kind finden wir neue saubere Schuhe und außerdem Hauben und Handschuhe die sie sich begeistert sofort anziehen. Auch Amila bekommt neue Schuhe was ihr endlich ein kleines Lächeln ins Gesicht zaubert. Dann laufe ich noch ins Lager und stelle ihnen ein großes Lunchpaket für die Zugfahrt zusammen.
Als wir zum Bahnsteig 1 zurückkommen bringen wir die Familie sofort in den Sonderzug nach Linz und bleiben noch kurz bei ihnen, bis sie ihr Gepäck verstaut- und Platz genommen haben. Es fällt uns schwer sie gehen zu lassen, doch es wird Zeit auszusteigen.
Wir umarmen uns alle noch einmal und steigen dann aus, um ihnen von draußen zuzuwinken. Ich bekomme Gänsehaut als ich meine Hand ans Fenster lege und die gesamte Familie es mir gleichtut.
Ein schriller Pfiff beendet den Moment. Wir treten zurück – und winken ihnen ein letztes Mal bevor der Zug abfährt.
*Namen geändert