Bahnsteig 1 – Hier spielt sich alles ab. Ich drücke mich durch die enge Absperrung. Vor mir – Chaos. Bahnsteig 1 ist so voll wie noch nie. Ich atme kurz durch und schiebe mich dann langsam vorwärts durch die großteils männliche Menschenmenge. Links neben mir weint ein Kind, aber ich kann nicht ausmachen woher die Stimme kommt, als plötzlich rechts neben mir ein älterer Mann beginnt laut ein Lied zu summen. Ich komme bis zu 1B dann stecke ich fest. Niemand bewegt sich, ich müsste auf die Gleise ausweichen um zu 1C zu gelangen aber nicht einmal die sind in Sicht. Es beginnt unruhig zu werden, die Menschen schieben und drücken, die Stimmen werden lauter. Seifenblasen schweben an mir vorbei in die Menge. Die Situation ist surreal.
Niemand kommt raus, die Polizisten haben den Bahnsteig wieder einmal abgesperrt, um die Leute hier zu behalten bis der Zug nach Linz kommt. Die meisten Menschen hier wissen nicht einmal wohin sie fahren. Sie wollen einfach nur weiter.
Plötzlich packt mich jemand am Bein und als ich hinuter schaue, steht da ein kleines Mädchen und schaut mich mit großen tränengefüllten Augen an. Ich hebe sie in Panik hoch, auf der Suche nach der Mutter, aber ich bin zu klein. Ein syrischer Mann nimmt mir die Kleine ab und streckt sie in die Luft. Er beginnt irgendetwas auf arabisch zu brüllen, bis ich von etwas weiter weg eine Frauenstimme vernehme, die anscheinend zur Mutter gehört, denn das Mädchen wird von Mann zu Mann weitergegeben bis ich ein lautes “Thank you” von der gleichen Stimme höre. Glück gehabt. Noch mehr verlorene Kinder brauch ich nicht. Ich habe jeden Tag genug, nach denen ich suche.
Knapp zwei Stunden und eine Schlägerei später sitzen endlich alle im Zug und er fährt ab. Die Kinder winken uns zu und lachen. Sie fahren ins Ungewisse und ich hoffe, dass sie es noch nach Deutschland schaffen, bevor die Grenzen zumachen.
Auf Bahnsteig 1 fahren heute noch mehr Sonderzüge Richtung Westen. Der letzte an diesem Abend hat nicht genug Platz für alle und die Menschen beginnen zu streiten, wer die letzten Sitzplätze bekommt. Ein Vater drückt sich mit einem etwa 10-jährigen Mädchen an mir vorbei in den Zug und setzt sich mit ihr direkt ans Fenster neben mir. Mit ihren kleinen Händen formt sie ein Herz und strahlt mich an. Mir wird ganz warm. Ich lächle zurück und forme ebenfalls ein Herz mit meinen Händen. Sie wird rot und versteckt sich hinter ihrer Jacke. Dann schaut sie wieder hervor und winkt mir. So geht das einige Minuten hin und her bis ich Magdy bitte in den Zug zu steigen und ihr eines meiner Armbänder zu geben. Ich will ihr eines meiner Thailand Armbänder geben, die ich immer noch trage, doch ich bekomme sie nicht hinunter. 2 Minuten noch bis der Zug fährt. Ich nehme mein kleines Perlenarmband ab, das locker an meinem Handgelenk hängt und drücke es Magdy in die Hand, der in den Zug steigt und das Mädchen versucht zu wecken, da es gerade eingeschlafen ist. Sie wacht auf und ist kurz verwirrt was er von ihr will, doch dann nimmt er ihre Hand und schiebt ihr das Armband darauf. Ich werde ihren Blick nie vergessen. Ihre Augen werden groß und voller Stolz und Freude drückt sie ihren Arm gegen das Fenster um mir mein Armband auf ihrem Handgelenk zu präsentieren. Sie hört nicht auf zu lachen und auch ihr Papa kann seine Augen nicht von seinem glücklichen und aufgeregten Mädchen nehmen. Sie formt noch einmal ein Herz und kuschelt sich dann ans Fenster und schläft innerhalb von Minuten ein. Ich drehe mich weg vom Zug. Das ist mir zu emotional. Ich starre die Wand an und konzentriere mich darauf zu atmen und positiv zu denken. Irgendwie klappt es und ich fange mich wieder, als der Zug langsam ausfährt und der Vater mir ein letztes Mal zuwinkt. Ich winke zurück und wünsche ihm und seiner Tochter in Gedanken viel Glück.