Ich sehe sie zum ersten Mal auf einer Bank schlafend im Bahnhofsgebäude. Sechs Männer sitzen am Nebentisch und mustern mich misstrauisch. Shery, eine Dolmetscherin und ich sind gekommen, weil das Gebäude geräumt wird und sie immer noch hier sind. Wir trauen den Männern nicht und haben plötzlich Angst das Mädchen alleine mit ihnen gehen zu lassen. Sie erklären uns, dass sie ein Hotelzimmer haben und als sie ihre Geschichte immer mehr abwandeln und Details vertauschen, bekommen wir so große Angst um das Mädchen, dass wir die Polizei holen.
Zwei lange Stunden werden Pässe überprüft, Daten eingegeben und die Männer noch einmal ausgefragt, doch es kommt nichts Ungewöhnliches dabei heraus. Wir müssen die kleine Hayin, die sich an mich klammert, den Männer übergeben. Es ist eine schreckliche Nacht und Shery und ich kommen am nächsten Morgen unausgeschlafen zurück zum Westbahnhof, um nach der Kleiner zu sehen – doch wir finden sie nicht. Wir sind kurz vor der Verzweiflung. Doch dann bekommen wir mittags endlich den erlösenden Anruf – Hayin ist wieder da und abgesehen von ihren verfilzten Haaren und der schmutzigen Kleidung geht es ihr gut. Ich hole sie sofort ab und besorge ihr neues Gewand. Sie scheint traumatisiert zu sein, redet kein Wort und schaut nur verschreckt um sich, als ich sie mit hinunter zum Caritas Lager nehme. Der “Vater” hat sie beim Kids Corner abgesetzt und gesagt, er holt sie später wieder ab.
Na gut, dann kümmer ich mich eben um sie. Gemeinsam mit ein paar Dolmetschern und viel Schokolade gelingt es uns dann doch sie zum Reden zu bringen. Sie erzählt uns, dass sie aus Aleppo kommt und dass es doch ihr richtiger Vater ist, mit dem sie geflüchtet ist. Trotz ungutem Gefühl glaube ich es ihr fürs Erste und als sie leise anfängt ein Lied darüber zu singen, wie weit weg ihre Mama ist und wie sehr sie sie vermisst, drücke ich sie eng an mich. Ich will nicht dass sie weiterreist. Am liebsten würde ich sie hier bei mir behalten.
Nachdem ich mich einige Zeit mit ihr beschäftigt habe bringe ich sie zu ihrem Vater zurück. Die folgenden drei Tage beschäftige ich mich oft mit Hayin, sie wird zu meinem kleinen Fels in der Brandung am Westbahnhof. Sie läuft mit offenen Armen auf mich zu sobald sie mich sieht und trotz Sprachbarrierern kommen wir gut miteinander aus.
Wir verstehen uns so gut, dass Hayin mir netterweise sogar einige ihrer Läuse abgibt, die sie, wie wir herausfinden, seit Längerem auf ihrem Kopf herumträgt. Also ab zur Ambulanz, Läuseshampoo in die Hand gedrückt bekommen und schon wird die Kleine auf der Westbahnhof-Toilette von ihren Begleitern befreit. Ich wasche mir abends dann ebenfalls gründlich mit dem Shampoo die Haare. Danke Hayin!
Die Tage darauf ist sie nicht mehr da. Sie ist gemeinsam mit ihrem Vater und Onkel bei einer privaten Unterkunft untergekommen. Ich vermisse sie schrecklich.
Die Zeit vergeht langsam, doch dann ist sie endlich wieder zurück. Ihr Vater hat Tickets gekauft und sie werden noch am gleichen Tag nach Deutschland bzw. Holland weiterreisen. Ich will nicht, dass sie fahren. Da die aktuelle Lage an den Grenzen unberechenbar ist und sich ständig ändert, habe ich Angst, dass sie an der Grenze zu Deutschland registriert werden und nicht zu ihren Verwandten in Holland kommen.
Beim Verabschieden will ich Hayin gar nicht mehr loslassen und winke ihr noch ein letztes Mal, bevor ich gehe.
Ich lenke mich mit Arbeit ab und versuche nicht zu viel an das Mädchen zu denken. Dann endlich bekomme ich eine Nachricht zusammen mit einem Foto – Hayin, ihr Vater und ihr Onkel sind gut angekommen.
“Kod.. no kana broblim” schreibt er, also einfacher “Gut. Nein kein Problem”, um Bescheid zu geben, dass sie ohne Probleme über die Grenzen gekommen sind und noch zwei Tage später bekommen wir ein Foto der neugeborenen Schwester von Hayin, welche ihre Mutter auf der Flucht in der Türkei auf die Welt gebracht hat – 5kg Hoffnung und Freude in Gestalt eines Babys, welches ein wenig Licht in den dunklen Fluchtalltag bringt.
Hayin, mein kleiner Engel aus Aleppo
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