Der Mann stolpert – fängt sich wieder. So schnell er kann läuft er weiter in Richtung “blaues Haus”. In den Armen trägt er sein etwa 2-jähriges schlafendes Kind eng an sich gedrückt, eine Decke schützt es mehr oder weniger erfolgreich vor dem strömenden Regen. Er blickt mich kurz an und ich weiß nicht ob es Tränen oder Regentropfen auf seinem verzerrten Gesicht sind. Es bricht mir das Herz. Hinter ihm weitere 30 Flüchtlingsfamilien, die versuchen so schnell wie möglich in die Notschlafstelle zu gelangen. Doch es dauert, denn das mittlerweile bekannte “blaue Haus” lässt sich oft Zeit mit dem Einlass, also warten sie draußen in einer Reihe, die Magdy, einer meiner Dolmetscher-Koordinatoren erfolgreich gebildet hat. Es vergehen knapp zwei Stunden bis alle im Haus untergebracht sind und wir erschöpft ins Lager zurücktrotten. Die Familien werden die Nacht zwar im Trockenen verbringen, aber in kahlen Räumen und auf Feldbetten. Momente wie diese bringen mich zum Nachdenken. Ist es fair, diese Flüchtlinge zu “Wirtschaftsflüchtlingen” zu machen und sie alle als undankbar und “schlecht” zu bezeichnen? Nein, das ist es nicht. Wenn weinende Mütter oder Väter zu mir kommen, weil sie unterwegs von ihren Kindern getrennt wurden und wir sie wiederfinden, wenn ein kleines Kind vor Freude herumspringt wenn es Schokolade von mir bekommt, wenn alle pfeifen und schreien wenn der nächste Zug kommt, der die Flüchtlinge weiter zur Grenze bringt, dann weiß ich, dass meine Arbeit hier richtig ist und wir alle gebraucht werden. Einer meiner engagierten und immer gut gelaunten Kollegen – mittlerweile sehr guter Freund – hat einmal gesagt, dass unser Tun hier so ist wie wenn “alle Zahnräder ineinander greifen und gerade weil wir alle so verschieden sind, arbeiten wir so gut zusammen”. Ich könnte es nicht besser formulieren. Nach über drei Wochen und jeden Tag im Einsatz sind wir aneinander gewöhnt, die Arbeit verläuft (meist) reibungslos und wir wissen, wann jemand ein wenig psychische Pflege braucht, um das Gesehene zu verarbeiten.
Ja, es belastet. Ja, es ist schwer den Flüchtlingen nicht mit dem Mitleidsblick zu begegnen, wenn sie mir von ihren monatelangen Reisen erzählen, die sie in LKWs, zu Fuß oder am Boot bestritten haben. Viele sind traumatisiert. Doch wir geben unser Bestes. Wir haben mittlerweile den Westbahnhof umstrukturiert. Man findet auf Parkdeck 3 der Parkgarage ein großes Areal, wo es “Relaxation Areas”, Computer, Kinderspielplätze und einen Essensbereich gibt. Hier halten sich großteils Familien auf. Dieses Umfeld ermöglicht vor allem den Kindern, wieder etwas abzuschalten und Kind zu sein. Auch im “Kids Corner” von Roland werden sie mit Musik, einer Spielecke und Luftballons von ihrer harten und langen Reise abgelenkt. Bei uns unten im Lager werden die Neuankommenden mit Hygieneartikeln und Kleidung ausgestattet und auf Bahnsteig 1 werden sie mit Lebensmitteln versorgt.
Entgegen der Vorurteile sind die meisten Flüchtlinge sehr stolz und bescheiden. Nicht nur einmal habe ich mitbekommen, dass sie Geld von Helfern abgelehnt-, oder uns fertig verpackte Lebensmittel zurückgebracht haben. Sie vertrauen uns, legen uns ihre Babies in den Arm und schlafen lieber vor unserer Tür im Freien, als in ein Notquartier zu fahren, weil sie sich “in unserer Nähe sicher fühlen”. Sie bilden eigene Putzgruppen um den Bahnhof sauber zu halten und helfen uns mit dem Dolmetschen.
Dafür bin ich dankbar. Dafür, dass sie trotz ihrer schwierigen Zeit so große Dankbarkeit zeigen und immer noch versuchen, das Beste aus ihrem Schicksal zu machen und einfach noch nicht bereit sind aufzugeben.
Erlebnisse am Kulturbahnhof
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